Gemeinsamer Beschluss zu "Live-In"-Betreuung

Stand: 08.11.2023

Seniorenbeirat und Ausländer- und Integrationsbeirat für faire Bedingungen bei der „Live-In“-Betreuung

Die gute Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger stellt viele Menschen vor große Herausforderungen: Denn Plätze in Pflegeheimen sind nur begrenzt verfügbar und teils mit hohen Kosten verbunden. Viele Pflegebedürftige haben zudem das Bedürfnis, in ihrer gewohnten Umgebung alt zu werden, was die Angehörigen oft vor große Herausforderungen stellt. Nicht zuletzt deshalb erfreut sich die sogenannte Live-In-Betreuung, also die Betreuung von Kräften, die meist im selben Haushalt mit dem Pflegedürftigen leben, großer Beliebtheit. Zwischen 300.000 und 700.000 sog. Live-in-Kräfte, zumeist aus Ost- und Südosteuropa, arbeiten in Deutschland in der häuslichen Betreuung. Doch diese oft fälschlich als „24-Stunden-Betreuung“ bezeichneten Betreuungsverhältnisse bergen für die Beschäftigten deutliche Nachteile sowie für die Pflegebedürftigen große Unsicherheiten. Das Bundesarbeitsgericht hat geurteilt, dass eine Live-In-Kraft Anspruch auf Lohn für die vollständige Arbeitszeit hat. Der Lohn muss mindestens die Höhe des deutschen Mindestlohns haben. Das deutsche Mindestlohngesetz, das Arbeitszeitgesetz und andere arbeitsrechtliche Vorschriften gelten. Da diese Vorgaben häufig nicht eingehalten werden, haben sich der Ausländer- und Integrationsbeirat und der Seniorenbeirat der Stadt Erlangen gemeinsam mit dem Thema befasst und Forderungen formuliert. Demnach bietet letztlich nur das sogenannte Arbeitgebermodell, bei dem die Pflegebedürftigen oder ihre Angehörigen die Pflegekraft anstellen, Rechtssicherheit und die Mindeststandards an Bezahlung. Die anderen Modelle, also das Entsendemodell, bei dem Agenturen die Pflegekräfte entsenden, oder das Selbstständigen-Modell, bei dem die Pflegekraft als Unternehmer auftritt, bergen hingegen trotz eines größeren Problembewusstseins für beide Seiten nach wie vor rechtliche Unsicherheiten.

Der gemeinsame Antrag von Seniorenbeirat und Ausländer- und Integrationsbeirat zielt deshalb auf zwei Ebenen. Zum einen wird die Stadt Erlangen aufgefordert, über den Deutschen Städtetag auf eine Verbesserung der rechtlichen Lage hinzuwirken. So sollten neben der ambulanten und stationären Pflege auch kombinierte Formen einer häuslichen Live-In-Betreuung als eigenständige Versorgungsform von Pflegebedürftigen gesetzlich definiert werden. Die direkte Anstellung von Live-Ins soll vereinfacht und attraktiver gemacht sowie im Ausland stärker als bisher für eine entsprechende Ausbildung im Gesundheits- und Pflegeberuf in Deutschland geworben werden. Zudem werden bundesweit verbindliche Qualitätsstandards für die Ausgestaltung der Vermittlungen durch private Agenturen eingefordert. Vor Ort setzen sich die Beiräte für verstärkte Beratung ein. So sollen Pflegebedürftige und ihre Angehörigen verstärkt über die Unvereinbarkeit einer häuslichen Vollzeitbetreuung mit dem deutschen Arbeitsschutzgesetz informiert werden. Bürgerinnen und Bürger und wo immer möglich auch ausländische Pflegekräfte sollen verstärkt auf den geltenden Mindestlohn in Verbindung mit der häuslichen Betreuung und auf legale Formen einer häuslichen Betreuung hingewiesen werden.

„In Deutschland sind Live-in-Kräfte, meist Frauen aus Ost- und Südosteuropa, mit zahlreichen Problemen konfrontiert. Sie arbeiten in ausbeuterischen Strukturen. Eine Bezahlung weit unter dem Mindestlohn, Einsätze rund um die Uhr und eine fehlende Trennung zwischen Wohn- und Arbeitsbereich sind oft Gang und Gebe. Exzessive Arbeitszeiten, die nicht vollständig bezahlt werden, sind keine Seltenheit. Intransparente Arbeitsverträge und Scheinselbstständigkeit prägen zudem die Branche. Pausen und arbeitsfreie Zeiten, Urlaub oder Lohnfortzahlung bei Krankheit sind oft nicht geregelt und finden daher keine Beachtung. Auch die reine Anwesenheit oder Rufbereitschaft in der Nacht gilt als bezahlte Arbeitszeit. Häufig sind sich Pflegebedürftige und ihre Angehörigen gar nicht über die Situation bewusst“, erklärt Rami Boukhachem, der Vorsitzende des Ausländer- und Integrationsbeirats.

„Viele Pflegebedürftige und ihre Angehörigen setzen ungeheure Hoffnung in die Live-In-Betreuung. Eine Betreuung mithilfe von „Live-Ins“ ist aber nur mit einem Pflegemix möglich, in dem weitere Betreuungs- und Pflegeleistungen hinzugezogen oder Angehörige zeitlich eingebunden werden“, sagt Dinah Radtke, Vorsitzende des Seniorenbeirats.

Oberbürgermeister Florian Janik lobt die Arbeit der Beiräte. „Ich möchte den Stadtratsgremien nicht vorgreifen, die sich zeitnah mit dem Antrag beschäftigen werden. Aber ich begrüße es, wie es den Beiräten hier gelungen ist, auf den ersten Blick völlig gegensätzliche Perspektiven zusammenzubringen und die Bedürfnisse von ausländischen Pflegekräften und Pflegebedürftigen gemeinsam zu denken.“

Das städtische Seniorenamt hat bereits signalisiert, das Thema aufgreifen zu wollen. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen erhalten kostenlose Unterstützung und neutrale Beratung durch den Pflegestützpunkt Erlangen. Gemeinsam mit den Beraterinnen können Betroffene Lösungen für ihre individuelle Situation erarbeiten, um den jeweiligen Pflege- und Betreuungsbedarf abzudecken. Der Pflegestützpunkt Erlangen gibt zudem Informationsmaterial über das geltende Arbeitsrecht in verschiedenen Sprachen an Familien aus.